Vorgeschichte Jutta

Alter: ca. 20 Jahre

Aussehen: weiße Kleidung, blonde Haare, zierlich

Merkmale: weiße Wohnung, keine Freunde, lacht selten, ernst

Josephina

14 Jahre. Spielt Basketball und Gitarre, mag Reisen, Schreiben und Kochen. 

23. Februar 2020 

 

Hallo Tagebuch,

ich habe heute etwas verändert. Ich bin in eine neue Wohnung gezogen. An der Wand hängt ein Bild, sonst ist alles weiß. Nur das Bild fällt auf. Ich kann es aber nicht abnehmen. Ich kann hier nichts verändern.

Irgendwie habe ich Angst vor all diesen Veränderungen. Ich wohne jetzt woanders. Der Weg zum Bäcker ist ein anderer. Alle Wege sind jetzt anders. Ich habe einfach Angst. Jeder hat Angst. Alle sagen immer, dass es egal sei, ob man „anders“ ist. Sie sagen, es sei okay, Angst zu haben. Ich bin also schwer in Ordnung

Ich muss jetzt los. Ich gehe weiße Farbe kaufen, da sind noch ein paar Stellen in der Ecke, an denen die alte Farbe durchscheint. Ich glaube, meine Leben hat sich gerade komplett verändert.

Bis bald.

Jutta

 

*

 

 

Ich blicke auf die Wand, schaukle weiter auf meinem Stuhl und denke nach. Mitten an der Wand prangt ein Bild in der Größe eines Fensters. Darauf ein stolzes Schiff. Es besteht aus alten Brettern, doch das Schiff selbst ist neu. Die Segel sind zwar gehisst, hängen jedoch schlaff herunter. Der Himmel strahlt blau, keine einzige Wolke, trotzdem tobt und wütet das Meer, 

 

 

die Wellen drohen, das Schiff zum Kentern zu bringen, doch es bleibt stabil auf dem Wasser. Das Schaukeln des Stuhls könnte mir das Gefühl geben, dort auf dem Boot zu sein, wenn ich diese Gedanken nicht sofort abblocken würde. Das mache ich dauernd. Schon seitdem ich hier eingezogen bin, schießt mir immer wieder die Frage durch den Kopf: Was, wenn ich dieses Boot wäre? Doch ich zwinge mich, nicht darüber nachzudenken, ob ich kentern oder schwimmen würde.

 

 

Ich hasse dieses Bild. Es spiegelt alles wider, was ich nicht bin, so stabil und widerstandsfähig, 

 

 

und es ist das Erste und Letzte, was einem hier ins Auge fällt. Sonst ist alles weiß. 

Ich bräuchte Farbe, um das Schiff zum Kentern zu bringen, denn abnehmen kann ich das Bild nicht. Es hing schon hier, als ich eingezogen bin. Manchmal denke ich, es hing vielleicht schon immer hier. Jetzt will ich es ertrinken lassen, verschwinden lassen, unter meiner Lieblingsfarbe – Weiß. Aber ich möchte nicht, dass ein weißes Bild das Interessanteste hier ist. Denn sonst mache ich mir nur weiter Gedanken darüber, ob ich, als untergegangenes Schiff, an der Wasseroberfläche treiben oder ganz unten sein würde. 

Ich werde also etwas Weiß dafür verschwinden lassen. Das Weiß von meiner Wand. Es wird der Farbe Gelb weichen müssen.

 

*

 

Ich stehe in der Thier-Galerie. Als mir kalte Luft entgegenstößt und ich die blinkenden Werbetafeln erblicke, bin ich kurz davor, gleich wieder zu gehen. Das hier ist zu viel Durcheinander auf einmal. Alle Läden wollen Aufmerksamkeit. 

Im Kaufhaus ist es kühl. Erstaunlich viele Menschen eilen durch die Gegend. Dabei meiden seit Neustem alle Leute Kontakte. Das mache ich schon immer. Ich blicke auf die Übersichtstafel und mache mich auf den Weg zum Fahrstuhl, um in den dritten Stock zu fahren.